Es ist ein positives Urteil, das Jesus über die Gemeinde in Ephesus ausspricht. Wir alle wünschten uns, daß er Wort um Wort dasselbe von der Gemeinde sagen könnte, in der wir selbst leben, und daß jedes dieser Worte auf uns selbst zuträfe. Um so erschütternder, daß Jesus trotz allem Positiven diese seine Gemeinde in solcher Todesgefahr sieht und um ihr ganzes Leben bangt.
„Aber ich habe wider dich": an solchem Urteil Jesu über uns hängt das Leben. Wenn Jesus solch schwerwiegendes Wort
Christus an seine Gemeinde
gegen uns hat, steht alles auf dem Spiel. Das ist eigentlich täglich unsere Frage, wenn wir über dem Wort der Schrift still werden: Herr, was hast du gegen mich? Es bedeutet unser Leben, wenn Jesus uns das zum Bewußtsein bringen kann was er mit Sorge bei uns sieht. Es ist oft nur ein einziger Punkt wie hier bei der Gemeinde in Ephesus. Aber dieser eine Punkt kann unser ganzes Leben mit ihm gefährden und vernichten.
Wie treu ist unser Herr, daß er so über uns wacht und uns allezeit klarmachen will, wo wir uns in Lebensgefahr befinden. Darum ist uns nichts so lebensnotwendig wie die tägliche stille Zeit, in der wir auf ihn und sein Wort hören. Wir machen es ihm sonst unmöglich, uns das zu sagen, was er wider uns hat. Nur in dem stillen, verborgenen Umgang mit ihm und dem rechten Hören auf sein Wort kann er uns die Punkte deutlich machen, die für uns lebensgefährlich zu werden drohen.
Wenn wir ihm diese Möglichkeiten nicht geben, greift er oft zu Radikalmitteln, um uns wachzurütteln. Mancher schwere Weg und manche Katastrophe unseres Lebens war nichts anderes als die treue Seelsorge Jesu, der keinen anderen Weg mehr fand, um uns zu sagen, was er gegen uns hat und wo er sich um uns sorgt.
Das Wort Jesu an Ephesus betrifft den tiefsten Schaden, die innerste Stelle in unserem persönlichen Verhältnis zu Jesus:
„Du hast deine erste Liebe verlassen." Was waren es große Tage in Ephesus, als die erste Liebe zu Jesus aufbrach und er ihnen bedeutsamer als alles andere im Leben wurde. Diese Zeit der ersten Liebe zu Jesus ist in jedem Menschenleben unvergeßlich. Diese Liebe, die Jesus an die erste Stelle stellt und ihn zu dem entscheidenden Faktor unseres Lebens werden läßt, kann nie einer vergangenen Zeit angehören. Diese erste Liebe ist nicht nur für die erste Zeit des Lebens mit Jesus charakteristisch, sondern für das ganze Leben. Es ist mit ihr nicht so wie mit dem Frühling, der dem Sommer, Herbst und Winter Platz macht. Diese Liebe zu Jesus, die ihn zu dem beherrschenden Faktor in unserem Leben macht und ihm den tonangebenden Platz in unserem Gewissen einräumt, ist das Lebenselement seiner Kinder in allen Lebensabschnitten. Wie sollte es auch anders sein können!
Der Verlust der ersten Liebe
Es gibt unheimliche, starke Kräfte in uns, in unserer Umgebung und in der unsichtbaren Welt, die diese Liebe zu Jesus lahmlegen wollen. Es ist etwas Wunderbares, wenn zwei junge Menschen in der ersten Liebe sich die Hand fürs Lebern reichen, und sehr schmerzlich, wenn nach einer Reihe von Jahren diese Liebe unter der Macht der Gewöhnung und anderen Umständen erloschen ist und dem sachlichen Verhältnis einer Ehe Platz gemacht hat, die durchaus korrekt verläuft, aber in der die erste Liebe verschwunden ist. Formal ist alles in Ordnung. In Wirklichkeit ist die Ehe zerknickt. Es fehlt ihr das Schönste und Beste, der eigentliche Schmelz, das, was die Ehe zur Ehe macht.
Dieselbe Katastrophe kann in unserem Verhältnis zu Jesus eintreten, daß aus dem echten Verhältnis zu Jesus, in dem die Liebe zu ihm der treibende Motor ist, eine sachliche Beziehung wird, die man nur noch in seiner Gedankenwelt sachlich registriert, der aber die Unmittelbarkeit der Verbindung mit ihm selbst fehlt. Es ist alles ebenso korrekt wie in einer Ehe, die formal in Ordnung ist, in der aber die Liebe starb.
Es gibt ein Formalchristentum, das durchaus korrekt ist und in dem der Form nach alles existiert, was zum Leben einer Gemeinde Jesu Christi gehört: ein klares Bekenntnis zu Jesus, eine gute sittliche Zucht, ein rechter Dienst der Gemeinde, eine gesunde Verkündigung. Aber das alles wächst nicht mehr aus der Liebe zu Jesus, aus dem verborgenen Umgang mit ihm, aus der engen Gemeinschaft mit ihm selbst. Aus dem, was einst unmittelbares Leben mit Jesus selbst war, sind Sachwerte geworden, die man aufrechterhält und pflegt, aber nicht mehr lebendige Lebenslinien, die aus der Gemeinschaft mit Christus immer neu herauswachsen und geformt werden. Fast möchte man sagen, es ist wie in einem Museum, in dem alles gut erhalten und gepflegt wird. Aber es ist nicht mehr wirkliches Leben. An der entscheidenden Stelle hat es einen tiefen Schaden gegeben. Von außen sieht noch alles so aus wie einst, und doch hat sich etwas Grundlegendes verändert.
Professor Hadorn schreibt dazu im theologischen Handkommentar zur Offenbarung: „Die Gemeinde hat die erste Liebe verlassen. Der Eifer um die reine Lehre und die Zucht
Christus an seine Gemeinde
in der Gemeinde kann über diesen Mangel nicht hinwegtäuschen. Die Kirche hat zu allen Zeiten in diesem Stück ihren Hauptschaden zu erkennen. Die erste Liebe ist aber nicht etwas, das wie der Frühling naturgemäß vergehen muß. Die erste Liebe muß bleiben. Es handelt sich um die innere Stellung, um das persönliche Verhältnis zu Christus, das Schaden gelitten hat - ein Mangel, der durch keine Vielgeschäftigkeit, keinen Betrieb in Werken und Veranstaltungen religiöser Art, auch nicht durch Begeisterung und theologische Gelehrsamkeit ersetzt wird“.
Letzten Endes kann nur Jesus selbst beurteilen, ob dieser tiefste Schaden eingetreten ist. Wir selbst können voreinander die Fassade so gut aufrechterhalten, und doch wird der innere Leerlauf nicht selten auch vor Menschen schon offenbar. Es ist schon die erste Hilfe, wenn uns persönlich das Zittern nicht verlorengeht und die Frage nach der ersten Liebe zu Jesus im Blick auf unsere eigene Person wach bleibt.
Da die Liebe zu Jesus und die Liebe zu den Brüdern innerlich eng verbunden sind und eins aus dem anderen hervorwächst, wird dort, wo die Liebe zu Jesus erkaltet, auch die Liebe zu den Brüdern matt werden. Es ist ein sorgenvolles Zeichen, wenn ein Jünger Jesu keinen starken Zug mehr zur Gemeinschaft der Kinder Gottes hat, sondern sehr wohl imstande ist, als Einzelgänger zu leben und ein isoliertes Dasein zu führen. Aller Mangel an Bruderschaft hängt irgendwie zusammen mit dem Mangel an der ersten Liebe zu Jesus selbst.
Die Ursachen für das Erlöschen der ersten Liebe können mannigfaltig sein. Eine kleine verborgene Sünde, mit der wir immer wieder den Geist Gottes betrüben, kann auf die Dauer schwerwiegende Lähmungen zur Folge haben. Eine ehrliche Beugung vor Jesus und, wenn nötig, ein offenes Aussprechen vor einem seelsorgerlichen Menschen kann eine große Hilfe sein. Meist aber werden es schwerwiegendere Dinge sein, die sich tief eingefressen haben und die Liebe zu Jesus lähmen. Doch gibt es keine noch so schwerwiegende Schuld und keine noch so starke Lähmung, die nicht unser Herr heilen könnte.
Noch zwei andere Faktoren, die nicht so gefährlich aussehen, haben eine unheimliche, lähmende Wirkung: die Macht der
Der Rückweg zur ersten Liebe
Gewöhnung und der Mangel an Zeit. Wir können uns an alles gewöhnen - auch an das Schönste und Liebste, so daß es uns alltäglich und abgegriffen wird. Auch Jesus gegenüber sind wir in dieser Beziehung nicht gesichert. Auch er kann uns zum Alltäglichen und Selbstverständlichen werden, statt daß wir jeden Tag von neuem über ihn staunen. Wem das Staunen über Jesus und seine unendliche Vergebung und Freundlichkeit bleibt, dem bleibt auch die erste Liebe zu ihm.
Wer die Vergebung Jesu nicht mehr so bitter nötig hat wie im ersten Anfang des Lebens mit ihm, verliert das Staunen über die unverdiente freie Gnade und mit ihm die dankbare Liebe zu Jesus. Bei einem echten geistlichen Wachstum wird uns von Jahr zu Jahr tiefer bewußt, wie wir der Vergebung Jesu bedürftig sind und nur durch sie leben können.
Darum kann die Liebe zu Jesus nicht abnehmen, sondern nur wachsen, weil wir seiner Vergebung bedürftiger und immer dankbarer dafür werden. Jesus sagt Lukas 7, 47: „Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt; welchem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig."
Daß der Blick für unsere Vergebungsbedürftigkeit getrübt und das Staunen ausgelöscht wird, hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß wir uns vom Tempo des Lebens so beschlagnahmen lassen, daß die Zeit für den stillen Umgang mit Jesus und seinem Wort immer weniger wird. Es ist wie in einer Ehe:
wenn die Ehegatten erst keine Zeit mehr füreinander haben, dann stirbt die Liebe zueinander. In dem Verhältnis zu Jesus ist es nicht anders. Aus der stillen Zeit mit ihm wird die erste Liebe zu ihm immer neu geboren. Wo wir keine Zeit mehr für das stille Zwiegespräch mit ihm haben, stirbt die erste Liebe.
Die Entscheidung