Die Liebe Jesu zu uns hört auch dann nicht auf, wenn wir ihn tief enttäuschen und so selbstsicher geworden sind, daß wir nur noch scheinbar ihn nötig haben, in Wirklichkeit aber unabhängig von ihm unser Leben gestalten. Einst hatte die Gemeinde in Laodicea Jesus als ihren Heiland wirklich nötig, als die ganze Not um ihre Schuld vor Gott aufbrach und sie die Vergebung Jesu nötiger brauchte als das tägliche Brot.
Damals war sie sehr arm in sich selbst. Sie gehörte wirklich zu den Leuten der ersten Seligpreisung. Sie war arm in sich, aber reich in Jesus. Jetzt war sie reich in sich selbst, aber arm in Jesus. Der verborgene Umgang mit Jesus ist uns in solcher Zeit nicht mehr ein Lebensbedürfnis wie früher. Aus dem Bettler vor Christus ist ein selbstsicherer Mensch geworden, der gerade soviel „Frömmigkeit" hat, um seines Herrn nicht mehr auf Schritt und Tritt bedürftig zu sein.
Es ist die Katastrophe unseres Lebens mit Christus, wenn wir mit uns zufrieden geworden sind und nicht mehr merken, wie alles bei uns Stückwerk ist und wie sehr wir seine Vergebung nötig haben. Während wir glauben, daß unser Leben mit Christus verhältnismäßig gut im Lot ist, ist in Wirklichkeit der Weg der Nachfolge Jesu sehr breit und das Gewissen in vielen Fragen stumm geworden. Es ist immer die Folge der satten Selbstzufriedenheit, daß aus dem feinen Gewissen ein sehr robustes wird, das die Stimme Jesu in den praktischen Fragen des Alltags überhört und auf Schritt und Tritt Kompromisse schließt, ohne es zu merken. Sonst könnte man gar nicht so zufrieden mit sich selbst sein. Wenn das Gewissen noch richtig arbeitete, würden wir merken, wie elend und arm wir vor Christus sind, und würden die lebensgefährliche Selbstsicherheit und Sattheit gar nicht aufkommen lassen.
Die Heilung
Es ist erschütternd, wenn wir gar nicht merken, wie es um uns steht, und in unserem Bewußtsein ein reiches, inneres Leben haben, während in Wirklichkeit die Nachfolge Jesu zerbrochen ist und das Gewissen nicht mehr auf ihn hört.
Es ist immer todernst, wenn Jesus uns nicht mehr zeigen kann, was bei uns krank ist, wenn er nicht mehr in die alltäglichen Fragen unmittelbar hineinsprechen darf und unsere Selbstsicherheit nicht mehr zu zerschlagen vermag. Vor ihm sind wir immer arm und krank. Vor seinem heiligen Auge reicht es nie zu. Vor ihm bleiben wir immer die Menschen der ersten Seligpreisung, die in sich bettelarm sind. Unser Reichtum ist nie in uns, sondern nur in ihm.
Aber Jesus ist treu, daß er uns nicht in unserer Selbstsicherheit sterben läßt. Er kommt uns zu Hilfe: „Ich rate dir, von mir zu kaufen." Es ist ein eigenartiges Kaufen, da wir ihm nichts geben können, und er alles umsonst gibt. Und doch müssen wir das, was wir brauchen, bei Jesus kaufen und finden es nur in dem verborgenen Umgang mit ihm. Wir dürfen bei ihm alles kaufen, was für uns notwendig ist. Wir empfangen es als die Bettler, dann aber ganz bestimmt. Es hat noch nie einer bei Jesus angeklopft, dem er die Tür gewiesen hätte. Es liegt alles bei ihm für uns bereit. Wir dürfen von ihm kaufen, was nötig ist, um uns in einem echten Leben mit ihm zu erhalten. Wir empfangen es als sein unverdientes Geschenk. Der, der uns befehlen und richten könnte, spricht: „Ich rate dir, von mir zu kaufen." Wer aus seiner Selbstsicherheit aufgeschreckt ist und den Rat Jesu befolgt, wird das Leben neu empfangen.
Das „Gold", das durch Feuer geläutert ist, ist das echte Leben mit Christus, das nicht in einer frommen Fassade besteht, sondern in dem Ringen um das wirkliche Bleiben in ihm und das tägliche Hören auf ihn. Es ist das Leben, in dem Jesus durch das Feuer seines täglichen Gerichts die Schlacken ausscheiden und einen Läuterungsprozeß durchführen kann. Dann sind wir in Wahrheit reich, obwohl wir uns täglich schlechter vorkommen. Wir sind reich, weil er sich unser erbarmt und die Gemeinschaft mit ihm nicht Selbsttäuschung ist.
Die „weißen Kleider" werden uns allein durch die Vergebung Jesu zuteil. Nur sie vermag unsere Schande zu bedecken,
Christus an seine Gemeinde
daß sie am Tage des Gerichts nicht sichtbar wird. Das weiße Kleid ist die Gerechtigkeit vor Gott, die uns Jesus Christus auf Golgatha erworben hat. Eine andere gibt es nicht. Der Selbstsichere und Selbstzufriedene kann sie nicht empfangen. Dem, der um seine Armut weiß, wird sie zuteil.
Die „Augensalbe" ist der Geist Gottes, der uns die Augen für uns selbst öffnet und uns nicht nur an einzelnen Punkten unsere Sünde zeigt, sondern einen Einblick gibt, der bis in den Schlammgrund unseres Wesens geht, aus dem jederzeit jede Sünde aufzusteigen vermag. Wer den Geist Gottes empfängt, denkt nicht mehr groß von sich, sondern wird auf Schritt und Tritt der Gnade bedürftig. Der Geist Gottes zerstört alle Selbstzufriedenheit. Unter seinem treuen Einfluß werden wir auch nach Jahrzehnten der Nachfolge Jesu noch wissen, wie wir seiner Vergebung bedürftig sind. Ja, dann wissen wir es erst recht.
Das hebt nicht das Wort 2. Korinther 3,18 auf, daß Christus seine Kinder von Klarheit zu Klarheit in sein Bild gestaltet. Aber er ist mit uns allen noch auf dem Wege. Keiner ist am Ziel. Wir machen ihm alle noch viel Not. Wer darum nicht mehr weiß, bereitet ihm die größte Not und ist selbst in der schwersten Gefahr.
Entscheidend aber ist, daß wir das, was wir von Christus empfangen und was er in uns gestaltet, nie als selbsteigenen Besitz haben, über den wir verfügen können, als gehörte er uns. Alles, was wir unter seinem Einfluß sind und werden, haben wir nur in dem Hängen an ihm. Ohne ihn sind wir die alten. Darum sind wir unser Leben lang auf ihn angewiesen, daß wir im Glauben an ihm hängen und als die in sich Wurmstichigen aus dem verborgenen Umgang mit Christus Kräfte der oberen Welt gewinnen. Das ganze Leben Jesu ist uns zugedacht, aber wir haben es nicht als Eigenbesitz, sondern nur als glaubende Bettler in dem Hängen an ihm; dann aber wirklich.
Darum bedeutet es das Leben, daß uns der Geist Gottes laufend das Auge dafür öffnen kann, wo wir seiner bedürftig bleiben. Die Augensalbe des Geistes Gottes macht uns so sehend, daß wir uns je länger, je schlechter vorkommen, obwohl das Werk Jesu vorwärtsschreitet. Es ist vielleicht das stärkste
Die Heilung
Merkmal des weiterschreitenden Werkes Jesu in uns, daß wir je länger, je mehr für uns und die tiefen Schäden in uns sehend werden. Wem das zuteil wird, der sollte seinem Herrn tausendfältig dafür danken, daß er ihm die Salbe gereicht hat, die sehend macht, und daß er darum reich in Jesus ist.
Die Liebe und Treue Jesu gibt keinen auf. Wenn er nicht durch sein treues Wort uns helfen kann, sucht er uns durch sein treues Gericht zu retten. Wir können den Vers 19a in der Übersetzung kaum so wiedergeben, daß es deutlich wird, wie der ganze Ton auf dem einen Wort liegt: „Ich." Jesus will sagen: so bin nur ich. Ich strafe nicht, um zu strafen. In allem, was ich tue, offenbart sich nur meine Liebe und Treue zu dir. Ich nehme nicht in Zucht, um in Zucht zu nehmen, sondern um dir dein Leben mit mir zu erhalten und neu die Liebe zu mir zu entzünden. Dabei ist sein Gericht und seine Zucht im Leben seiner Kinder oft so tiefgreifend und schmerzend wie die Operation des Chirurgen, der tief schneidet, um den Krebs ganz zu entfernen.
Darum liegt der zweite Ton in Vers 19a auf dem kleinen, knappen Satz: „Die ich lieb habe." Wir würden die Gemeinde in Laodicea ganz falsch ansehen, wenn wir sie nicht mit diesem Blick Jesu betrachten würden. Sie ist nicht die verstoßene, verdammte, verachtete Gemeinde, sondern sie ist die, die Jesus liebhat. Die hochmütige, selbstbewußte und im Grunde so selbstsichere Art, mit der manche gläubige Kreise über andere Kreise von Jüngern Jesu urteilen und sie als „Laodicea" brandmarken, hat mit Jesus und seinem Wort nichts zu tun.
Laodicea ist sein krankes Kind, das er unendlich liebhat und dem er helfen möchte. Ich fürchte, daß die Jünger Jesu, die so hart und selbstsicher über andere zu urteilen vermögen, selbst das sind, was sie mit dem Namen „Laodicea“ kennzeichnen. Aber in den Augen Jesu sind auch diese selbstsicheren Richter ihrer Brüder und Schwestern noch seine Kinder, die in sich reich geworden sind und deren er sich darum in großer Liebe annimmt, um ihre Selbstsicherheit zu zerschlagen. Diese Liebe kann hart zugreifen und tief stürzen lassen. Bei wem sie ihr Ziel erreicht, der wird ihm nur danken.
Christus an seine Gemeinde